Seit etwa zwei Monaten befinde ich mich in der Ausbildung zum Physiotherapeuten. Ein Grund, die Ausbildung zu beginnen, war mein Wunsch, die Vorzüge von Taiji Quan, QiGong und NeidanGong auch aus westlicher Sicht besser zu verstehen und vermitteln zu können.
Bereits jetzt, zu Beginn der Ausbildung, habe ich eine essenzielle Erkenntnis gewonnen: „Wie ökonomisch die Bewegungen und Handlungen sind, die wir aus den Prinzipien des Taiji beim Üben erkennen können.“
Im weiteren Verlauf werde ich vereinfacht nur von „Taiji“ sprechen. Damit meine ich das zugrunde liegende Prinzip, das wir im Taiji Quan, QiGong und NeidanGong üben – unabhängig von Stil oder Methode. Einerseits dient dies der Lesbarkeit, andererseits liegt mein Fokus nicht auf den Übungssystemen selbst, sondern auf dem Prinzip, das ihnen allen zugrundeliegt.
Taiji als gesundheitliche Bewegungslehre
In einem Gespräch mit einem Mitschüler wurde mir zum ersten Mal bewusst, wie ausgeklügelt Taiji als gesundheitliche Bewegungslehre ist. Es war ein Aha-Moment – wie ein Fisch, der plötzlich merkt, dass er im Wasser lebt.
Bisher habe ich mich, abgesehen von gelegentlichem Bouldern oder Laufen, fast ausschließlich mit Taiji als Bewegungskunst und Sport beschäftigt. Dabei war mir nicht klar, wie grundlegend anders viele andere westliche Sportarten und Bewegungskünste sind. Sie beschäftigen sich oft wenig oder gar nicht mit den Themen, die im Taiji im Vordergrund stehen.
In der Physiotherapie begegegneten mir bisher viele Therapieansätze, wie etwa Atemtherapie, Förderung der Rotationskräfte, Verbesserung der Durchblutung und des lymphatischen Systems, Ausdauer, Stärkung von Muskulatur und Knochen oder Mobilitätsförderung usw.. Im Taiji sind all diese Themen auf die eine oder andere Weise vorhanden.
Andere Sportarten umfassen diese Bereiche zwar teilweise auch, doch sind sie dort oft nur spezifische Trainingsschwerpunkte für die bessere sportliche Leistung oder nette Nebeneffekte. Üben wir Taiji, sind dies unsere eigentlichen Zielschwerpunkte. Zudem wird spezifisch auf Verschleißvermeidung geachtet und eine tiefere emotionale, psychische und energetische Ebene werden angesprochen, die über den allgemeinen westlichen Sportansatz hinausgeht.
Besagter Mitschüler, mit dem ich sprach, zeigte dafür ein anschauliches Beispiel im Üben der Propriozeptiven Neuromuskulären Fazilitation (PNF). Diese Methode zielt neben Muskelstärkung und Mobilisation auch auf die Aktivierung und das Erlernen ökonomischer Bewegungen ab.
Ein „einfaches“ Prinzip, das jedem Taiji-Praktizierenden vertraut ist: Die aktive Bewegung eines Beins zieht die Belastung des anderen Beins mit sich. In der Physiotherapie nennt man das „Irradiation“ oder das Prinzip von Stand- und Spielbein. Im Taiji spricht man von Yin und Yang.
Der Mitschüler, der viel Krafttraining betreibt, ist es gewohnt, seinen Körper mit willentlicher muskulärer Kraft zu bewegen. Er konnte sein Bein zwar problemlos heben und senken, aber die harmonische Gegenbewegung, die aus dem ganzen Körper heraus entsteht, wurde kaum aktiviert. Wozu auch? Er ist jung und gesund, da lässt sich vieles mit Kraft kompensieren und ökonomische Bewegungen sind nicht zwingend notwendig.
Vor Beginn der Ausbildung machte ich ein Praktikum bei einem Physiotherapeuten, der mir anhand einer neurologisch beeinträchtigten Patientin zeigte, wie sich eine gestörte Irradiation im Körper ausdrückt. Er wies auch darauf hin, dass viele Kinder dieses natürliche Zusammenspiel ebenfalls nicht mehr besitzen. Er nahm an, dass dies eine Folge der zunehmenden Bewegungsarmut im jungen Alter ist.
Es sind die einfachen Dinge die wir im Taiji lernen, die eine große ökonomische Wirkung auf uns haben. Das simple „mit den Zehen in die Erde zu greifen“ beispielsweise, richtet das Fußgewölbe auf, begradigt die Beinachse und schont somit ungemein unsere Kniee und schütz uns langfristig vor einseitiger Abnutzung des Gelenkknorpels.
Qi und Li: Das Zusammenspiel von Energie und Kraft
Im weiteren Austausch mit dem Mitschüler zeigte ich ihm, was Touishou ist. Ich war selbst neugierig, wie ich gegen jemanden mit signifikant mehr Muskelkraft bestehen würde. Zu meiner Freude muss ich zugeben, dass mein Ego etwas gestreichelt war, als er leicht frustriert kommentierte: „Der Kerl steht, als wäre er am Boden festgenagelt.“
Dabei möchte ich keinesfalls den Eindruck erwecken, dass Kraft (Li) im Taiji keine Rolle spielt und allgemein nicht wichtig ist. Vielmehr zeigt dieses Beispiel, wie wichtig das Zusammenspiel von Qi (Energie) und Li (Kraft) ist.
Wo Qi ist, da ist auch Li – und nur wenn beide miteinander wirken, entsteht Taiji als harmonischer Wechsel.
Allerdings beobachte ich, dass Taiji im Westen oft einseitig praktiziert wird – mit einem übermäßigen Fokus auf das Yin, also die Entspannung. Großmeister Shen Xijing weist in seinem Unterricht oft darauf hin, dass, wer nur Entspannung üben will, besser eine Tasse Tee trinken oder Musik hören sollte.
Die höhere Bedeutung der ökonomischen Bewegung
Die gesundheitlichen Vorteile ökonomischer Bewegung sprechen bereits für sich. Doch wenn unser Üben uns in unserer Ganzheit als Mensch erfasst, können wir noch mehr lernen. Ökonomische Bewegung wird zu einer Verkörperung, die uns lehrt, auch auf anderen Ebenen ökonomisch zu sein.
Wir vermeiden nicht nur körperlichen Verschleiß, sondern auch geistige Überanstrengung oder den übermäßigen Verbrauch unserer Ressourcen. Das Taiji-Prinzip zeigt uns, wie wir unser Leben in Harmonie gestalten können – in Bewegung und darüber hinaus.
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