„Nichts ist so beständig wie der Wandel. Alle Dinge sind im ewigen Fluss, im Werden, ihr Beharren ist nur Schein.“
Heraklit
Die Kultivierung der Fähigkeit, im ständigen Wandel zu sein, ist ein essenzieller Teil der Übungspraxis auf den daoistischen Wegen. Jeden Tag durchlaufen wir ständigen Wandel: Die Sonne geht auf und unter, das Wetter verändert sich, die Wolken ziehen an uns vorbei, Menschen werden geboren und sterben, wir schlafen und wachen auf. Alle Dinge befinden sich im ständigen Wandel.
Wandel im Kontext unsere Gesundheit
Aus Sicht der traditionellen chinesischen Medizin (TCM) ist Stagnation oder ein nicht harmonischer Wandel die Ursache von Krankheit. Diese Stagnation betrifft nicht nur den Körper, wie beispielsweise bei einer einseitigen Ernährung oder der falschen Kleidung zur richtigen Jahreszeit, sondern es muss auch in uns selbst ein dauerhafter Wandel vorhanden sein. Selbstbilder wie „der ewig ruhige, besonnene Taiji-Übende“ führen dazu, dass wir bestimmte Anteile in uns nicht natürlich wandeln lassen. Angestaute Emotionen und Bedürfnisse führen zu Blockaden, die uns krank machen. Der freie Fluss des Qi ist gestört, weil der Geist ein Bild von uns formt, das nicht mit unserem Erleben und den äußeren Umständen übereinstimmt. Oft wird hier von Leber-Qi-Stagnation gesprochen. Die Leber ist nach der TCM für unser Spannungsniveau auf faszialer und muskulärer Ebene verantwortlich.
Die Psychosomatik erklärt dies ebenfalls aus westlicher Sicht. Starre Denk- und Verhaltensmuster führen zu einem angespannten, unflexiblen Körper. Bei einer Depression, die nach freudianischer Auffassung unterdrückte Wut ist, ist die Spannung im Ruhezustand so hoch, dass Betroffene ohne sportliche Aktivität unter Muskelkater leiden.
Geht unser tiefster Kern, unser Shen (Geist im höheren Sinne), nicht mit unserem Yi (Verstand) einher, leben wir auf Dauer nicht im Einklang mit uns selbst und unserer Umwelt. Das führt dazu, dass wir zwiespältige Entscheidungen in unserem Leben treffen. Wer kennt es nicht? Auf Verstandesebene wissen wir, dass dies oder jenes nicht gut für uns ist, trotzdem rauchen wir, essen die Tüte Chips oder pflegen Beziehungen, die uns im Grunde nicht gut tun, während wir Menschen, die uns gut tun, nicht so behandeln, wie wir es gerne würden. Kognitiv sind wir meist in der Lage, dies zu verstehen. Überzeugungen, die jedoch oft viel tiefer in uns verborgen sind, lassen uns anders fühlen und anders handeln. Irrationale Ängste, die in uns gespeichert sind, Stagnationen, Blockaden und Schutzmechanismen wie „das bin ich nun mal“, „das war schon immer so“, „das kann ich einfach nicht“ oder „ich kann mich nicht wehren“ führen dazu, dass wir verharren. Dahinter liegen tiefgreifende Prägungen und Erlebnisse, die uns geformt haben.
"Wer neu anfangen will, soll es sofort tun, denn eine überwundene Schwierigkeit vermeidet hundert neue."
Konfuzius
In der systemischen Therapie gibt es das Bild eines Mobiles, das verdeutlichen soll, wie wir in unseren Beziehungen im ständigen Wandel sein müssen, um nicht aus dem Gleichgewicht zu geraten. Verändert sich ein Teil des Mobiles, bewegen sich alle Teile. Bis sie sich wieder in stiller Harmonie befinden, bedarf es einer Zeit, bis sich alle Teile an ihrem neuen Ort gefunden haben. Teile, die nicht mehr ins Gleichgewicht passen, müssen das Mobile verlassen.
Wechseln zu können – in einem Moment nachgiebig und zurückhaltend, im nächsten Moment klar und deutlich – ist eine Fähigkeit, die wir im Taiji, Qi Gong und Neidan Gong auf viele Weisen kultivieren. Wir werden unter Druck gesetzt, dem wir weich wie Wasser ausweichen, um im nächsten Moment kraftvoll wie ein Drache zu agieren.
Der Musiker im Orchester muss sich immer seinen Mitspielern anpassen, damit sogar die Hirnwellen miteinander schwingen. Wenn der Musiker allein spielt, schwingt er von Ton zu Ton und sucht nach Harmonien.
Der Maler befindet sich in ständiger Kommunikation mit seinem Werk und reagiert auf jeden gesetzten Pinselstrich.
Der Kampfkünstler übt die Fähigkeit, unter Stress einen ruhigen Kopf zu bewahren und weiterhin auf seinen gegenüber zu reagieren, um die Fähigkeit zur ständigen Anpassung zu erlangen.
„Die Definition von Wahnsinn ist: immer wieder das Gleiche zu tun und andere Ergebnisse zu erwarten. “
Albert Einstein
Mut zum Wandel
Wandel bedeutet zunächst einmal aus evolutionärer Sicht Stress für den Organismus. Gewohnte Situationen sind für uns leicht einschätzbar und bedeuten wenig Energieaufwand. So ist der Zustand des Verharrens im Altgewohnten verständlich. Ungewohnte Situationen verlangen von uns, Energie aufzuwenden, um sie zu bewältigen. Im schlimmsten Fall so viel Energie, dass sie unsere Grenzen überschreitet, oder wir zumindest glauben, dass sie unsere Grenzen überschreiten. Oft ist es die Vorstellung vom Unbekannten, die uns am Alten festhalten lässt. Vielleicht sind wir dem, was uns dann erwartet, nicht gewachsen, wir werden überwältigt oder empfinden das Entdeckte als unangenehm. Es gibt viele verschiedene Stolpersteine, die uns auf dem Übungsweg der Wandlung begegnen können. Je mehr wir versuchen, in neuen, ungewohnten Situationen gleich zu bleiben, desto mehr Energie kostet uns das jedoch – ein Paradox.
Besonders im Taiji Quan, das zu Beginn klare Übungsstrukturen vorgibt, kann das Bild entstehen, dass es die eine richtige Form gibt. Sei es ein Übungsablauf, ein Stil oder eine Ausführung. Diese klaren Strukturen haben ihren Wert. Im Chinesischen bezeichnet man formhafte Übungen als „Jo Wei“. Vielleicht kommt einem hier der gegenteilige Begriff „Wu Wei“ (Formloses) in den Sinn, ein Begriff, der in vielen Werken viel Aufmerksamkeit erhält und als höchstes anstrebenswertes Ziel gilt. Ein schwingungsfähiges Gleichgewicht ist hier ebenso vonnöten. Das klassische Taiji „Stehen wie eine Kiefer“ ist hierfür ein wundervolles Beispiel. Die formhaften Übungen sind den meisten Taiji-Übenden bekannt: Scheitel stützt den Himmel, Füße verwurzelt, Becken gekippt etc. Die Tatsache, dass es unterschiedliche Ausführungsarten gibt, je nach Stil, spricht dafür, dass hier verschiedene Ziele und Ansätze zu einer veränderten Form führen. Je schwingungsfähiger wir in einer Übung werden, desto mehr können wir in ihr entdecken. Bleiben wir hingegen mit aller Macht im formhaften Üben und versuchen, die vorgegebene Struktur mit aller Kraft zu halten, stagnieren wir.
Ebenso stagnieren wir, wenn wir die Arme sinken lassen, uns hinsetzen und den Fernseher einschalten. Ein Anpassungsprozess muss im Stehen durchlaufen werden. Traditionell folgt der Schüler, mit östlichem Gehorsam, einfach so lange den Anweisungen des Meisters, bis die Anpassung von ganz allein eintritt. Westlich, wenn wir nicht anders disziplinär geprägt sind, könnte ein Öffnen des Geistes nötig sein. Wir behalten die Struktur, doch indem wir weich werden, wird der Körper durchlässig, löst die kleinsten Blockaden und passt sich in jedem Moment immer wieder neu an, sodass die Kraft nach unten abfließen kann und uns natürlich Energie durchfließt, wodurch wir uns natürlich ausdehnen können. Hier kann ein Moment der wirklich stillen Achtsamkeit entstehen, in dem wir nicht absichtsvoll sind, sondern uns ganz dem hingeben, was uns die äußere Struktur abverlangt.
Je schwingungsfähiger und gelöster wir sind, umso weniger Energie benötigen wir, um uns auf den Wandel einzustellen. Fließen wir einfach mit, sorgt unser Überleben für sich selbst. Verschiedene Gründe können uns glauben lassen, dass wir uns nicht verändern können. Haben wir wenig Vertrauen in uns selbst, unsere Fähigkeiten oder unsere Umwelt, desto mehr ängstigt uns der Wandel. Heutzutage spricht man hier von Resilienz, „der Eigenschaft psychischer Widerstandskraft; Fähigkeit, schwierige Lebenssituationen ohne anhaltende Beeinträchtigung zu überstehen“. Wobei ich persönlich mit dem Begriff Widerstandskraft nicht vollkommen übereinstimme. Eher setzt sich dieses Gefühl aus genährt sein und daraus resultierender Fähigkeit zusammen, schwierige Situationen bewältigen zu können. Aus daoistischer Perspektive ist dies die Kraft des Wassers.
Die Wasserübungen des Neidan Gong haben genau dies zum Ziel. Wie auch schon im Dao De Jing beschrieben:
Kapitel 8
Das höchste Gute gleicht dem Wasser.
Des Wassers Gutsein: Es nützt den zehntausend Wesen,
Aber macht ihnen nichts streitig;
Es weilt an Orten,
Die die Menge der Menschen verabscheut.
Darum ist es nahe dem Weg.
Übersetzung Günther Debon
Die Qualität des Wassers als höchste Verkörperung des Wandels und des Lebens.
Körper und Geist sollen im Üben wie Wasser werden.
Erstaunlicherweise ist eine weitere Beschreibung der griechischen philosophischen Lehre der Panta Rhei ganz ähnlich zu den Beschreibungen der Wasser-Übungen:
„Wer in denselben Fluss steigt, dem fließt anderes und wieder anderes Wasser zu.“
Stellen wir uns vor, in einem Fluss zu stehen, und das Bewusstsein (Yi) dringt in den Körper ein; der Geist bewegt den Körper. Der Körper fließt frei, wie das philosophische Zitat beschreibt – durch den Körper hindurch lösen wir Blockaden. Verspüren wir tiefgreifende Gelöstheit, spiegelt sich dies wiederum auf unsere Psyche. Das Bewusstsein (Yi) wird durch die Bewegung des Körpers in einen freien, selbstvergessenen, fließenden Zustand geführt.
Mein Persönlicher Wandel
Inspiration zu diesem Blogeintrag war ein größerer persönlicher Wandel, der sich nun über einige Zeit erstreckt hat. Seit der 7. Klasse wollte ich in Ottersberg Kunsttherapie studieren. Mit der Zeit hat sich ein Bild als Kunsttherapeut in mir geformt. Fünf Jahre bis ich die Schule beendet habe, ein Jahr Bundesfreiwilligendienst im Kindergarten, vier Jahre Studium und vier Jahre Berufsalltag als Kunsttherapeut, bis ich nicht mehr war, was ich sein wollte.
"Manchmal zeigt sich der Weg erst, wenn man anfängt ihn zu gehen."
Paulo Coelho